Auf dem Geländer, auf der Hut

Wie Möwen sich die Zeit vertreiben und warum man sie besser nicht verärgert

Dass die Lachmöwen eher gesellige Tier sind, sieht man ja überall dort, wo sich sich aufhalten: in der Stadt, am Fluss, auf dem See – es sind immer viele Möwen, die man sieht, selten nur trifft man auf eine allein. „Generell verhalten sich Lachmöwen sozial“, sagt auch Philipp Herrmann, seines Zeichens Lachmöwenexperte. So sitzen sie also in trauter Gemeinsamkeit nebeneinander; in einer Stadt am liebsten auf Geländern oder Balustraden oder Mäuerchen, und warten darauf, dass etwas passiert. Sie beobachten also: das Geschehen rund um sie herum. Zum Beispiel die Menschen, die an ihnen vorbeieilen. An sie haben sie sich schon gewöhnt – „da blicken sie kaum auf“, berichtet Herrmann. Aufmerksam werden sie erst dann, wenn jemand stehen bleibt. Denn die Möwen kennen uns Menschen gut, sie wissen, wir haben eigentlich immer etwas Besseres zu tun, als Lachmöwen zu beobachten - also kann das Stehenbleiben für sie nur zwei Dinge bedeuten: entweder Gefahr, oder Fressen.
Denn so ganz sicher sind sich die Möwen nicht, ob sich unter den Menschen nicht doch ein gefährliches Raubtier versteckt hat. Besonders ungeheuer kommen ihnen diejenigen mit Fellkragen an der Kapuze vor: „Da geben sie sofort ein Alarmsignal“, erzählt Herrmann, nämlich das Alarmsignal für „Gefahr!“. Das ruft meist die Möwe aus, die gerade am höchsten Aussichtspunkt sitzt, oft ist das eine Straßenlaterne; und das hören alle Möwen im Umkreis und fliegen auf. Dasselbe Signal wird ausgerufen, wenn sich ein Hund nähert. Auch wenn er an der Leine ist. „Da verstehen die Möwen gar keinen Spaß“, sagt Herrmann.
Meist aber handelt es sich bei einem stehenbleibenden Menschen um jemanden, der den Möwen offenbar gar nichts Böses will, auch keinen Fellkragen an der Kapuze hat und, wer weiß, vielleicht sogar etwas zum Thema „Fressen“ beizutragen hat. Denn: „Darum dreht alles“, so Herrmann. „Die Möwen haben eigentlich den ganzen Tag Hunger.“ Wenn dieser Mensch also ein paar Semmelstückchen dabei hat (sollte er aber nicht, die Erklärung dazu gibt es hier), ertönt sofort ein anderes Signal, das bedeutet „Fressen!“. Und schon stürzen sich alle Möwen gleichzeitig auf die Krumen. „Seltsam eigentlich“, sinniert auch unser Lachmöwenexperte, „dass sie sofort Bescheid geben, wenn sie etwas zu fressen entdecken, aber dann um jeden Bissen kämpfen“. Dämlich, eigentlich. Oder auch nett. Ansichtssache.
Übrigens halten die Lachmöwen ganz besonders dann fest zusammen, wenn sie gerade ihre Jungen ausbrüten und großziehen. Das machen sie in riesengroßen Kolonien, und zu Forschungszwecken werden die Jungen dort oft beringt (wie unsere Weronika). Von tapferen Helfern - denn diese Tätigkeit ist wirklich kein Spaß. Wenn die Forscher sich die einzelnen Jungen kurz schnappen, dann stürzen sich die Eltern auf ihn und „kacken ihn voll“, sagt Herrmann.
Ja, richtig gelesen.
Das ist aber nur die erste Phase der Vertreibung; würden die Forscher die Jungen nicht gleich wieder absetzen, würden die Eltern zum „Hauen und Picken“ übergehen, sagt Herrmann. Na gut, im Vergleich dazu hört sich die erste Vertreibungs-Phase doch absolut akzeptabel an.

Nina Praun